Völkermord

Der Völkerrechtler Luis Moreno Ocampo, ehemals Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, hat in seinem gerade veröffentlichten Bericht „Genocide against Armenians in 2023“ die Blockade des Latschin-Korridors, mit der Aserbaidschan die 120.000 ethnischen Armenier in der Enklave Bergkarabach seit Monaten von jeder überlebensnotwendigen Versorgung abschneidet, als „Völkermord durch Aushungern“ bezeichnet, „dieselbe tödliche Methode, die 1915 gegen Armenier und 1939 gegen Polen und Juden angewandt wurde“.
Unter Verletzung des Internationalen Menschenrechts, der Urteile des Internationalen Gerichtshofs sowie der Selbstverpflichtung aus dem trilateralen Abkommen vom November 2020 blockiert Aserbaidschan seit Dezember letzten Jahres absichtsvoll die einzige Lebensader der Armenier in Arzach.

Ermuntert von der völligen Indifferenz seiner europäischen Geschäftspartner lässt der neue „Wertepartner“ der EU seit dem 15. Juni 2023 nun endgültig nichts und niemanden mehr passieren, selbst humanitäre Lieferungen nicht, während er gleichzeitig die Gas- und Elektrizitätszufuhr beschneidet und die wenigen Landwirtschaftsflächen von bewaffneten Militärhanseln beschießen lässt.
30.000 Kinder, 2.000 Schwangere, 20.000 Alte haben zwei Monate später (erwartungs- und wunschgemäß) den Zustand der akuten Lebensbedrohung erreicht.
Als Frankreich im Dezember 2020 im UN-Sicherheitsrat eine Resolution zur sofortigen Aufhebung der Korridorblockade einbrachte, wurde sie von einer kruden Allianz knallhart geschäftsversessener Kaputtnik-Staaten blockiert: Grobbritannien (Geld & Gas) hatte gegen den drohenden Völkermord an der indigenen Bevölkerung Bergkarabachs (kein Geld, kein Gas) ebensowenig einzuwenden wie Albanien (Gas & Geld), Saudi-Arabien (Geld & Gas) und Russland.
Nun verlangt Ocampo vom UN-Sicherheitsrat erneut, den Fall mit allerhöchster Dringlichkeit an den Internationalen Strafgerichtshof zu verweisen, denn „ohne sofortige dramatische Veränderung“ werden die Armenier Bergkarabachs, so schreibt er, „in ein paar Wochen vernichtet sein“.
Drei Tage später kam der Brite Lawrence Meredith, dem nach 26,5 Jahren im öffentlichen Dienst der EU-Kommission als Direktor „Nachbarschaft Ost & Institutionenaufbau“ nunmehr die Oberaufsicht über 180 Beamte, ein Jahresbudget von 500 Mio. Euro sowie den östlichen Nachbarschaftsraum obliegt, auf eine seltsame Idee.
Auf seinem offiziellen Kommissionsaccount begann er nämlich – passend zum EU-Gasdeal und der spätsommerlichen Ferienzeit -, enthusiastisch für das „Urlaubsland“ Aserbaidschan zu werben und lud alle EU-Bürger (in einem üppig bebilderten Thread) aufs Schwärmerischste dazu ein, „in die Wunder dieses bezaubernden Landes einzutauchen“ – eines Landes wohlgemerkt, das derzeit einen Völkermord begeht.
Diese nahezu clowneske Koinzidenz verdankt sich dabei nicht allein den Tücken „schlechten Timings“, sondern gehört längst zu den beklemmendsten Zustandsbeschreibungen einer mittlerweile kinntief im amoralisch-nihilistischen Nichts versunkenen EU-Kommission.
Seit Abschluss ihres utilitaristischen Gasgeschäfts mit dem sympathischen Oligarchenclan um Erbdiktator Alijew (Verdoppelung auf 20 Milliarden Kubikmeter Gas bis 2027) ist die EU umso krampfhafter um die Aufrechterhaltung ihrer neutralitätsheischenden Äquidistanz zu beiden Ländern bemüht. Einer Äquidistanz, die aus ethischer Sicht in Wahrheit noch nie vertretbar war.
Dass es für Europäer irgendwie „moralischer“ sein soll, russischen Rohstoff auf dem Umweg über Indien und Aserbaidschan zu beziehen (oder aserbaidschanischen von einer Diktatur), kann Frau vonderLeyen vielleicht ihrer politisch analphabetisierten Oma, aber doch hoffentlich nicht 450 Millionen (potentiell) mündigen EU-Bürgern erzählen.
Und dass mit einer moralisch frei flottierenden Kommissionspräsidentin auch der gesamten EU eine vernünftige Positionierung so schwer fällt – angesichts einer abstoßenden Autokratie mit Gasreserven und der von Rohstoffvorkommen ungedeckten armenischen Demokratie -, lässt in der Tat viel tiefer blicken, als zu blicken wir uns ursprünglich vorgenommen hatten.
Solange das Diktatorengas nur „zuverlässig“ fließt, ist Europa offenbar erneut dazu bereit, die derzeit dem zweiten Genozid ihrer Geschichte ausgelieferten Armenier erneut ihrem Schicksal zu überlassen – begleitet von nichts als dem energischen Schulterzucken dieser schuldhaft in gewissenlose Beobachterstarre verfallenen Sonderschulklasse, der die EU-Politik derzeit unseligerweise überantwortet ist.
Das gilt umso mehr für ein – entgegen seiner Selbstauskunft – merklich eher gas- als wertegeleitetes deutsches Außenministerium, das augenscheinlich wild entschlossen ist, sich noch nicht in einmal in dieser, der armenischen Frage einen Hauch aufrechter zu positionieren als es das Deutsche Reich vermochte.
Schon einmal, während des Ersten Weltkrieges, hatten deutsche Machtstrategen ihr eigenes Ziel, die „Kriegsachse“ Berlin – Bosporus um keinen Preis zu „schwächen“, bekanntlich vor den Schutz armenischen Lebens gestellt – und jedem in den Jahren 1915/16 von der jungtürkischen Regierung begangenen Grauen – seinen barbarischen Massakern ebenso wie den perfiden Todesmärschen – wissentlich, regungslos und stillschweigend zugesehen, bis das Osmanische Reich die Leben von 1,5 Millionen Armeniern kaltblütig ausgelöscht hatte.
Es ist erschütternd, dass der für diesen geographischen Raum zuständige Direktor der EU-Kommission, der spätestens jetzt Alarm schlagen und zumindest zur drastischen Sanktionierung Aserbaidschans aufrufen müsste, es vorzieht, sich stattdessen als touristischer Handelsvertreter einer skrupellosen & tödlichen Diktatur zu gerieren.
Und es ist nicht weniger als ein veritabler Skandal, dass die gesamte Bundesregierung aus diesem unseligen Kapitel der deutschen Geschichte offenbar nur den einen Schluss zu ziehen vermag, dass sie es unbedingt noch einmal wiederholen muss.