“Heute wurde Manfred Weber (CSU), der Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Spitzenkandidat ebendieser Partei für die kommende Europawahl, bei der Bundespressekonferenz zur möglichen Sperrklausel für die Wahlen zum Europäischen Parlament befragt. Für einen Mann, der Präsident der Europäischen Kommission werden möchte, hat er dabei überraschend wenig Sachkenntnis über die Gesetzgebungsprozesse und scheint sich dem Grundgesetz nicht sonderlich verpflichtet zu fühlen. Daher haben wir uns die Freiheit genommen, seine Aussagen zu korrigieren (irgendjemand muss es offenbar machen).”
von Dustin Hoffmann
Frage von Stefan Lange (Wall Street Journal/Dow Jones) bei der Bundespressekonferenz an Manfred Weber, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei und Spitzenkandidat ebendieser Partei für die kommende Europawahl:
“Es wird offenbar keine Sperrklausel zur Europawahl geben, bedauern Sie das eigentlich, dass ihre Parteifreunde auch im Bundestag nichts zu Wege gebracht haben? […]”
Manfred Weber:
“Zur Sperrklausel: Wir haben erstmals jetzt auf europäischer Ebene ein europäisches Wahlrecht beschlossen für die Europawahlen der Zukunft. Bisher gab es nur nationales Wahlrecht, das jeweils im Land gestaltet wurde und die nationalen Mandate fürs Europäische Parlament zu verteilen. Und jetzt haben wir erstmals Europawahlrecht, das eine Sperrklausel vorsieht von zwei bis fünf Prozent – je nach nationaler Umsetzung.”
Das ist falsch. Richtig ist: Das Europäische Parlament hat den Auftrag ein gemeinsames europäisches Wahlrecht auszuarbeiten. Bisher gibt es nur einen groben Rahmen (den Direktwahlakt), den Mitgliedstaaten obliegt die Umsetzung in das nationale Recht. Daran ändert sich nichts, das Europarecht gibt weiter lediglich einen Rahmen vor und die Mitgliedstaaten gestalten ihn. Neu ist nur, dass es eine Sperrklausel zwischen zwei und fünf Prozent geben muss. Es handelt sich aber nicht um ein wirklich europäisches Wahlrecht, die Wahlen werden weiterhin in jedem einzelnen Mitgliedstaat abgehalten.
“Ich würde mir trotz der bisherigen Beratungen in Berlin wünschen, dass das noch beherzt angegangen wird, das Zeitfenster ist da.”
Das ist falsch. Der Verhaltenskodex für Wahlen der Venedig-Kommission (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) des Europarates gibt vor, dass es ein Jahr vor der Wahl keine entscheidenden Änderungen am Wahlrecht geben soll. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hält eine Umsetzung für 2019 sogar für wahrscheinlich verfassungswidrig (mehr dazu weiter unten).
“Wir sprechen wie gesagt nicht von einer klassischen Wahlrechtsänderung auf nationaler Ebene, sondern wir sprechen heute vom Vollzug von Europarecht.”
Das ist falsch. Der geänderte Direktwahlakt, der die verpflichtende Sperrklausel enthält, ist noch gar nicht in Kraft getreten. Dieser muss erst durch alle Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Ob das vor der Europawahl 2019 oder überhaupt der Fall sein wird, ist ausgesprochen fraglich, bspw. hat die spanische Regierung bereits Ende 2017 angedeutet, dass die notwendige Mehrheit für die Ratifizierung im nationalen Parlament fehlt. Solange der Direktwahlakt nicht in Kraft getreten ist, bleibt die Sperrklausel für das Europaparlament in Deutschland ohne Zweifel verfassungswidrig.
“Das ist beschlossenes Europarecht – das ist Europawahlrecht, insofern geht es um die Frage, ob es vor der Wahl oder nach der Wahl in nationales Recht umgesetzt wird. Es steht nicht die Frage im Raum, ob man es umsetzt, sondern nur noch die Frage im Raum, wann man es umsetzt.”
Das ist falsch. Wie oben bereits erklärt, ist es noch kein beschlossenes Europarecht. Außerdem muss der deutsche Gesetzgeber nur im Einklang mit dem Grundgesetz ratifizieren. Da die europäische Gesetzgebung an dieser Stelle ausschließlich darauf abzielt, die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen, bleibt die Verfassungsmäßigkeit zumindest fragwürdig. Der nationale Gesetzgeber ist natürlich nicht gezwungen, europäische Gesetzgebung zu ratifizieren, wenn diese inkompatibel mit dem Grundgesetz ist.
Unabhängig davon sieht der geänderte Direktwahlakt aber eine Übergangsfrist vor. Die Sperrklausel muss erst zu der Wahl umgesetzt werden, die auf das Inkrafttreten des geänderten Direktwahlaktes folgt. Wenn alle Mitgliedstaaten den Direktwahlakt vor der kommenden Europawahl ratifizieren, gilt die Übergangsfrist bis 2024. Wenn es danach passiert, liegt diese sogar mindestens bei 2029. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages stellt dazu übrigens fest: „Hier sprechen die besseren Argumente dafür, dass er [Anm.: der nationale Gesetzgeber] bei seinem Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien über das europarechtlich Zwingende weder zeitlich noch der Höhe nach hinausgehen darf.“ (WD 3 – 3000 – 326/18) Das bedeutet für die Sperrklausel: keine Umsetzung vor Ende der Übergangsfrist und nicht mehr als zwei Prozent.
“Und wir haben das in Europa umsetzen können dieses Wahlrecht im Europäischen Parlament und einstimmig im Europäischen Ministerrat, weil das Verständnis dafür gewachsen ist, dass wir im Europäischen Parlament – wie in jedem Parlament – die Notwendigkeit haben für Gesetze, die Mehrheit der Abgeordneten zu bekommen. Und wenn es im Bundestag und im Landtag richtig ist, eine Prozenthürde aufzusetzen, um handlungsfähig zu sein und Zersplitterung zu vermeiden, dann ist im europäischen Rahmen das gleiche Argument wirkmächtig.“
Das ist falsch. Das Vorhaben war erfolgreich, weil die deutsche Bundesregierung riesigen Druck auf die anderen Mitgliedstaaten ausgeübt hat. Die meisten davon sind mitgezogen, weil sie es nicht betrifft. Spanien ist von der neuen Regelung betroffen und hat so lange die Unterstützung verweigert, bis Rajoy darin eine Möglichkeit sah, die Katalanen zu ärgern. Portugal hat erklärt, dass diese Regelung niemals auf das eigene Land Anwendung finden darf und die Niederlande haben die Regelung so umformulieren lassen, dass sie nicht mehr betroffen sind.
Manfred Weber hat die Urteile des Bundesverfassungsgerichts entweder nicht gelesen oder nicht verstanden. Das Gericht hat deutlich herausgearbeitet, warum die Sachlage beim Europaparlament anders ist als beim Bundestag oder den Landtagen. Im Europaparlament gibt es deutlich mehr als hundert Parteien, die sich sehr erfolgreich in Fraktionen organisieren. Von den sieben Abgeordneten aus Deutschland, deren Parteien 2014 nur einen Sitz erlangt haben, haben sich fünf Fraktionen angeschlossen. Allerdings ist keiner von diesen der EPP oder S&D Fraktion beigetreten. Genau diese Fraktionen waren es aber, die die Sperrklausel vorangetrieben haben. Es gibt keinen einzigen dokumentierten Fall, bei dem eine vermeintliche Zersplitterung die Handlungsfähigkeit des Europaparlaments beeinträchtigt hätte. Die Wahrheit ist: Die Bundesregierung missbraucht das Europarecht, um die demokratischen Prinzipien des Grundgesetzes auszuhöhlen.
Zum Abschluss ein interessanter Hinweis: Bei der Europawahl gibt es keine Grundmandatsklausel, das heißt, dass die CSU beim Bestehen einer Sperrklausel allein in Bayern so viele Stimmen holen müsste, dass sie bundesweit die Hürde überwinden würde. Bei der letzten Europawahl hatte die CSU noch 5,3%, dass sie diesen “Erfolg” wiederholen wird, ist sehr unwahrscheinlich. So mutiert der viel kritisierte Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde zum Glücksfall für die CSU, denn beim Fortbestand der Hürde wäre der Einzug in das nächste Europaparlament für diese irre Splitterpartei sehr schwierig geworden.