Expeditionsbericht Spijkenisse

Ein Gastbeitrag von Klaus Ungerer

Um der EU Reisekosten zu sparen, habe ich Spijkenisse nur auf Google besucht, und man darf sagen: Das reicht auch.

Spijkenisse, schon mal gehört? War da nicht was? Vor ein paar Monaten ging ein Foto von dort um die Welt: Eine U-Bahn hatte ihr Viadukt durchbrochen und stürzte wundersamerweise nicht ab, sondern landete auf einer großen Skulptur, die die Fluke eines abtauchenden Walfischs darstellt. (Dem Kunstwerk geht es den Umständen entsprechend gut, danke.)

Ein Hochleistungsprodukt unserer technisierten, beschleunigten Welt verliert den Halt, droht abzustürzen – und wird von der Kraft der Kunst gerettet! Ist das nicht eine tolle Parabel? Aber machen Sie da mal selbst was draus, das interessiert hier gar nicht. Spijkenisse hat neben einer beschädigten Polyacryl-Flosse (Haben die tüchtigen Holländer mittlerweile fleißig inspiziert und repariert) auch noch eine weitere Topattraktion zu bieten: eine, die uns tief hineinführt in das Herz Europas, in die große, verbindende Idee, die uns alle zu begeisterten EU-Bürgern macht, die bei Fußballturnieren mit den niederländischen und österreichischen Nachbarn jubeln, und die ihren Kindern abends, ehe sie einschlafen, „Götterfunken“ in 27 Sprachen vorsummen.

Europa, du Top-Idee! Du Spijkenisse unter den großen Menschheitsgedanken! Neugierig nähere ich mich der Neubausiedlung „De Elementen“ des Rotterdamer Vororts, flach genug und weit genug weg von allem, dass das Aussehen der Bauwerke eigentlich auch schon wieder egal ist, beginne am Hongerlandsedijk, der irgendwo im Nirgendwo mit einem Absperrgitter und einem abgehängten, ungenutzten Drehkreuz beginnt, wohinter sie ein Hochhaus hochziehen, um die elende Plattheit der so genannten Landschaft ein bisschen erträglicher zu machen. Von dort muss man nur an wenigen Parkplatzflächen vorbei, ehe man rechts herum in den Oude Maasweg einbiegt und, unter dräuenden schwarzgrauen Wolken, in einer mit dem Lineal gezogenen oder in Minecraft entworfenen Welt sich voranklickt, bis sie rechterhand unversehens auftaucht: eine der Brücken, die auf den Euroscheinen zu sehen sind – und die lange Zeit als nur ausgedachte Gespinste galten, weil nie, niemals die europäischen Nationen sich hätten auf echte Bauwerke einigen können. Bis Spijkenisse sie einfach nachgebaut hat. Hier ist die gelbe! Interessant, die mal zu sehen, gelbe Scheine sind in der Realität so selten. Dahinter wohnen Menschen, oder, den flachen scheußlichen Häusern nach zu urteilen, wohl doch eher Niederländer. Ein paar Linealmeter weiter, den gluckernden Graben entlang, der das deprimierende Wohngebiet von den ebenso deprimierenden Teilen der Umgegend abtrennt, wohl um eine katastrophale Depressions-Kernexplosion zu vermeiden, stößt man auf die nächste Grachtenquerung: Diese enthält aus Gründen der Kostenersparnis gleich zwei nachgebaute Euroschein-Brücken, eine Fassade links, eine Fassade rechts, beide in erschwinglichen Blautönen. Ein paar Meter weiter dann rollt die europäische Idee langsam aus, da sich die restlichen drei Brücken am anderen Ende von „De Elementen“ befinden und ich jetzt schon nicht mehr kann.

Hier steht nun also, nur für Fußgänger, die grüne Brücke, welche die Betuchteren unter den Lesern von ihren 100-Euro-Scheinen her kennen, sie verbindet, über das brackige Wasser hinüber, vier bunte, geputzte Trenn-Mülleimer auf der Wohnseite mit einer Art Stromkastenklo auf der Überlandverkehrsseite. Hier hört „De Elementen“ dann auch unvermittelt auf. Ein paar ungenutzte Abwasserrohre sind quergelegt, damit man nicht etwa einfach weitergeht, hinter den Rohren liegt ein weite Brache aus Altgras, Sand und Beton, die sich durch Überschreiten der Brücke zauberisch in ein riesiges blau-gelbes Zirkuszelt verwandelt, auf dessen Fahnen und Werbeplakaten immer nur, wie in einem Alptraum, der Schriftzug „Exxon Mobil“ steht, und das ist das Ende der Reise, mehr will ich für den Moment gar nicht wissen über den Europäischen Gedanken.