Aristide-Briand-Brücke

Ein Gastbeitrag von Klaus Ungerer



Der Kern des europäischen Gedankens ist die deutsch-französische Freundschaft, und der Kern der deutsch-französischen Freundschaft ist eine existenzielle Verzweiflung: Wie um Himmels Willen soll man es schaffen, dass diese einander zutiefst fremden, einander zutiefst verachtenden Länder nicht gleich morgen früh wieder aufeinander losmarschieren? Immer wieder hat es, Händchen haltend oder nicht, einzelne Versuche kriegsmüder Politiker gegeben, sich zähneknirschend mit den Barbaren auf der anderen Seite zu verbrüdern – alles ist besser als eine Nachwuchsgeneration, die auf dem Schlachtfeld verreckt. Ein solcher Schattenspringer war Aristide Briand, 1862 bis 1932, Friedensnobelpreisträger: Mit Gustav Stresemann suchte er eine tragbare Nachbarschaft, ein Auskommen miteinander.

Er ist ein Vater des europäischen Gedankens. Ihm zu Ehren haben sie in der deutschen Hauptstadt eine Brücke gebaut! Dort radel ich heute hin. 

Der Hinweg ist recht leicht zu finden. Irgendwo im Wedding hört Berlin für eine Weile auf, Großstadt zu sein, und verwandelt sich in Urwald. Dort radelt man dann immer weiter. Der Urwald verwandelt sich in Schrebergartenkolonien, Man radelt weiter. Die Schrebergartenkolonien verwandeln sich in die schier endlose, schäbige Außenmauer der Hermann-Göring-Kaserne: Mauer, Mauer, Mauer, verrosteter Stacheldraht oben drauf. Deutschland-Extrakt: In der Kaserne, so las ich, heißen die Straßen Hamburger Straße, Kölner Straße, Thüringer Weg usw., zudem, wenn versehentlich mal ein Flugzeug aufs Kanzleramt plumpst, wird hier der Kanzler mit seinem Stab residieren … und, ja, wenn wir historisch überkorrekt sein wollen, so heißt die Hermann-Göring-Kaserne mittlerweile etwas anders. Aber dieser Name passt besser zu Bauzeit und Aussehen. Minuten und Aberminuten rolle ich an der Mauer entlang, bis allmählich ziviles Leben näher kommt: Vor mir dröhnt die vielspurige Stadtautobahn, malerisch umspielt vom noch mal so vielspurigen Kurt-Schumacher-Damm, und nachdem ich beide mit ein wenig schlechtem Gewissen überquert habe – immer könnten die Leute ja denken, man möchte sich hinabstürzen von da oben, und dann wird das Auto schmutzig –, befinde ich mich auch schon in der Cité Pasteur, einem Stück deutsch-französischer Lebensart, mitten in Berlin. 

Die Straßenschilder sind hier blau statt weiß, zwischen abgerockten Wohnbaracken findet sich keine Menschenseele, außer hin und wieder einen Handwerker, der etwas zum Handwerkern sucht. Es gibt ein paar Spielplätze. Der größte von ihnen ist zwei Meter hoch eingezäunt und mit einem sechszeiligen Verbotsschild versehen. Im Zaunkarree warten, vermutlich seit den Siebzigern, ein paar vereinzelt stehende Spielgeräte, am Schaukelgerüst sind die Schaukeln abmontiert, das ist sicher sicherer so. Einen kleinen, gar nicht so üblen Park gibt es auch in der Cité Pasteur, spärliche Kiefern und Eichen sind hier aufgestellt, als hätte ein magensaurer Bauhäusler eine Andeutung der gallischen Asterix-Wälder inszenieren wollen. Die nächste Liegenschaften sind ein ADAC-Trainingsplatz und ein Flughafen, der nicht mehr angeflogen wird.

In einer Bushaltestelle am Kurt-Schumacher-Damm drehe ich mir eine. Auf einem Plakat macht ein Komiker Werbung für eine Fernsehsendung, die existiert, um Werbung zu verkaufen. An die Kasernenmauer auf der anderen Seite, hinter all den Autospuren, hat jemand geschrieben: „Masken runter! Rubikonews“. Um mich herum floriert und tobt das europäische Wappentier, der Spatz. Eine 128 kommt angerollt, hält und fährt auch wieder, Richtung Urban Tech Republic. Ich stoße Rauch aus. Ich sehe: 

Da ist sie ja. Das Ding, auf dem ich die tösende, brüllende Autobahn überquerte, die paar Betonmeter mit Stahlgeländer: Das ist die Aristide-Briand-Brücke! Eingeweiht 1977. Sie ist ein Wunderwerk. Wenige Meter Beton, und schon kommt das europäische Gefühl innerer Freiheit in einem auf: Man kann eine monströse Stadtautobahn einfach so, als schwebte man durch die Lüfte, überqueren. Man kann, während der Überquerung, in sich hineinfühlen, hinabblicken in das irre, laute Rasen, kann der beknackten Vergänglichkeit gedenken und dem restlichen Leben einen ganz neuen, milden Genuss abgewinnen…

Oh huch, was sind das alles für Gedanken! Woher kommt all die Fantasie in meiner teutonischen Rübe von Gehirn? Hat das die Aristide-Briand-Brücke gemacht? Erstaunt sehe ich, dass sie zwei Fußwege besitzt, und dass einer davon, derjenige ohne Ampel, auf keine Weise der Welt für Fußgänger zugänglich ist: Unerreichbar beginnt er mitten auf dem Kurt-Schumacher-Damm und führt ein paar Meter weiter, über die Autobahn, wo er wieder mitten auf dem Kurt-Schumacher-Damm endet. Es ist der sinnloseste Fußweg der Welt, dem deutschen Effizienzwahn abgetrotzt, ein Stück köstlicher Verspieltheit inmitten einer stumpfsinnigen Autobahnwelt. Ahhh Fronkreisch! Chapeau ab, Aristide Briand! Ihr versteht zu leben.